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Rezension "Natürlich, nackt, gesund"


„Mahnende Freikörperkultur“

Die Bewegung der „Lebensreform“ gilt als ein Moment, die Menschen und ihre Zeit geprägt zu haben, als sie Aktualität hatten. Entscheidende Fragen um die Ernährung, die Naturheilkunde und die Freikörperkultur sind zu Beginn des 20. Jahrhunderts gestellt worden. Mit großer Aufmerksamkeit wird immer wieder auf die Lebensreform in Deutschland geschaut. Mit der Studie „Natürlich, nackt, gesund“ schaut die Schweizer Historikerin Eva Locher auf die Prägungen durch die Lebensreform in der Schweiz in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts.

Dabei wird offenbar, wie ausgeprägt die Spuren in den deutschsprachigen Gesellschaften hinterlassen wurden. Vieles, was beispielsweise in der Gegenwart um Fragen der Ernährung und der Naturheilkunde diskutiert wird, hat Bindungen in die Lebensreform. So stellt Locher fest, dass die Naturheilkunde auch als Folge der Lebensreform die Naturheilkunde als Alternative anbieten konnten.

So stellt sich die Frage, welche Rolle die Freikörperkultur eigentlich in der Lebensreform gespielt hat? Und was merken wir heute noch von den früheren Lehren bei der Begeisterung für das Nacktsein heute? „Die Freikörperkultur trug um 1900 die naturheilkundliche Überzeugung, dass Licht und Luft auf der nackten Haut gesundheitsfördernd seien, einen Schritt weiter und propagierte das gemischtgeschlechtliche Nacktbaden in Wasser, Licht und Luft. Gesundheitliche Zielsetzungen verschränkten sich mit sozialreformerischen Aspekten, wenn FKK-Aktivisten eine unbefangene Haltung gegenüber dem nackten Körper forderten und sich durch diese Negierung gesellschaftlicher Moralvorstellungen und Normen größere Freiheit und eine Verbesserung der Gesellschaft erhofften“, schreibt Locher in der Studie.

Die Geschichtswissenschaftlerin Locher hat eine wissenschaftliche Studie vorgelegt, die man gerne liest. Denn obwohl die Inhalte und Themen auf den ersten Blick ungelenk wirken, so überzeugt die Forschungsarbeit mit der guten Verständlichkeit und ausgezeichneten Lesbarkeit. Bei aller Wissenschaftlichkeit nimmt die interessierte Leserin, der interessierte Leser das Buch gerne in die Hand.

Den Leserinnen und Lesern wird bei der Lektüre klar, welche gesundheitlichen Ideen im 20. Jahrhundert diskutiert wurden und welche Hinterlassenschaften der Lebensreform sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts finden. Es wird verständlich, was dies beispielsweise mit heutigen vegetarischen und veganen Lebensformen zu tun hat. Auch zeichnet sich ab, wie die Idee der Reformhäuser in den deutschsprachigen Ländern entstanden ist. Es wundert nicht, dass sich heute so manche Terminologie zeigt, die in der damaligen Zeit kultiviert wurde. Mit der „Arbeit am Selbst“ sei nur ein Beispiel genannt.

In der Gegenwart sind die organisierten Naturistinnen und Naturisten in der Eidgenossenschaft sicher eine kleine Gruppe. In der Vergangenheit scheint dies nicht so gewesen zu sein. Bis heute zeigt sich, wie prägend ein Naturisten-Gelände in Neuenburg für eine weltweite Bewegung gewesen ist. Mit dem Blick auf die Gegenwart stellt sich bei der Lektüre der Forschungsarbeit von Locher die Frage, weshalb die Naturistinnen und Naturistinnen eigentlich keine mahnende Stimme mehr sind. Während in der „Lebensreform“ die Zivilisation als problematisch und krisenbehaftet wahrgenommen wurde, so erscheint Freikörperkultur im Hier und Jetzt als Freizeitphänomen. Schön ist, dass die Studie „Natürlich, nackt, gesund“ ein Zeichen dagegen setzt.

Verfasser: Christoph Mueller

Eva Locher: Natürlich, nackt, gesund – Die Lebensreform in der Schweiz nach 1945, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2021, ISBN 978-3-593-51342-3, 426 Seiten, 45 Euro.