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Rezension zu Christian Schüle: Vom Glück, unterwegs zu sein – Warum wir das Reisen lieben und brauchen


Vom Mehrwert des Ferienmachens“

Wer vor dem Caravan auf dem Campingplatz oder auf der Terrasse einer Ferienwohnung hockt, wird Zufriedenheit empfinden. Es ist ein Gefühl der Zufriedenheit, an einem Irgendwo für den Moment angekommen zu sein, gleichzeitig das Gefühl des Unterwegsseins zu empfinden. Der Philosoph und Essayist Christian Schüle hat sich dieses Phänomen einmal näher angeschaut. Dabei nutzt er eine unerwartete Terminologie, schließlich geht es Schüle um die Versöhnung mit sich selbst.

Schon in seinem Prolog schreibt Schüle: „So gut wie immer komme ich von einer Reise zurück und bin versöhnt. Versöhnt mit mir und der Welt … Mehr noch: Ich bin auf faszinierende Art verstört, weil ich jedes Mal aufs Neue das erfüllende Gefühl habe, bei einer Reise in mir unbekannte Länder und Regionen auf listige Weise geschult worden zu sein“ (S. 9). Die Lesenden respektive die Reisenden sind schon an dieser Stelle gefordert, in sich zu gehen und sich die Frage zu stellen, wie es denn eigentlich um die eigene Standortbestimmung stehe.

Schüle betont in dem immer wieder Neugierde weckenden Buch, dass Reisen immer wieder die Menschen verändere. Dazu bedarf es jedoch der Bereitschaft, sich auf ein Reiseland und die Menschen einzulassen. Während sich die Lesenden von Seite zu Seite vorarbeiten, wächst diese Erkenntnis. Lesende wird irritieren, dass es möglicherweise nicht nur reicht, wenn sie das Reisen als solches genießen. Schüle zeigt auf, dass es einen Mehrwert gibt.

Aufmerksam werden die Lesenden bzw. die Reisenden, wenn Schüle schreibt, dass auf Reisen die Hauptsache im Exerzieren der Nebensächlichkeiten bestehe. Was er damit meint, schiebt er gleich hinterher: „Das heißt doch praktisch gesprochen: die eigenen Sinne fürs kleinste Detail zu schulen, der Verklärung die Verständigung vorzuschalten und ein Feingefühl für die Grammatik des Anderen auszuprägen, ohne sie vorbehaltlos zu verklären“ (S. 240). So haben die Lesenden und Reisenden die Gelegenheit, in den ruhigen Stunden des Urlaubmachens nach dem Mehrwert zu suchen.

Schüles Überlegungen könnten noch auf eine andere Weise gedeutet werden. Auf Reisen zu sein, sollte immer auch damit verbunden sein, fernab des Massentourismus das Eigentliche, das Ursprüngliche eines Urlaubslandes zu erleben, den Menschen zu begegnen. Da geht es darum, sich berühren zu lassen, sich anregen zu lassen, die eigene Lebensführung in Frage stellen zu lassen.

Schüle ist wohl weit durch die Welt gekommen. Davon dürfen sich die Lesenden und Reisenden nicht beeindrucken lassen. Es ist sicher von untergeordneter Bedeutung, wohin jemand reist, wie fremd die Kulturen sind, denen man in der Fremde begegnet. Ob im fernen Asien, an der Mittelmeerküste oder einfach nur in den österreichischen Bergen, für Schüle ist Reise eine „Schule des Wissens und die Schulung durch Wirklichkeit“ (S. 105). Lerne man unterschiedliche Sitten und Gebräuche kennen, so lerne man dem Absoluten zu misstrauen.

Es gelingt Schüle, den Blick der Lesenden und Reisenden zu erweitern. Sein Ziel ist es nicht nur, neue Kräfte zu sammeln oder sich vom Alltag ablenken zu lassen. Sein Ziel ist es auf den mehr als 200 Seiten, immer wieder hinter die Vorhänge zu schauen. Das Reisen hat halt seinen ganz eigenen Reiz.

Christian Schüle: Vom Glück, unterwegs zu sein – Warum wir das Reisen lieben und brauchen, Siedler-Verlag, München 2022, ISBN 978-3-8275-0157-8, 252 Seiten, 22 Euro.

von Christoph Müller